Im verschneiten Wartesaal fordert ein geheimnisvoller alter Mann zu einem Würfelspiel heraus, das das Schicksal der Protagonistin auf den Kopf stellt. Ein Spiel, das Leben rettet und alles verändert.
Der Schnee fällt in dichten Flocken, tanzt im Licht der Bahnhofslaternen und hüllt die Welt in einen sanften, weißen Schleier. Ich sitze im Wartesaal, allein mit einem alten Mann, dessen Gesicht im Schatten der abgenutzten Holzbänke verborgen bleibt. Draußen durchschneidet das Heulen eines D-Zugs die Stille der Nacht, sein Schrei vibriert durch die Scheiben und hallt lange nach, bis er in der Ferne verhallt. Zurück bleibt nur das leise Rascheln des Schnees, der sich auf den Schultern der wenigen Reisenden niederlässt.
Ich ziehe meinen Mantel enger um mich, spüre die Kälte, die durch die Ritzen der alten Fenster kriecht. Mein Atem bildet kleine Wolken in der Luft, und ich frage mich, wie lange ich noch hier warten muss. Mein Zug hätte vor einer Stunde kommen sollen, aber die Anzeigetafel zeigt immer noch „Verspätung“ an. Die Ungeduld nagt an mir, doch ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Es gibt nichts, was ich tun kann, außer zu warten.
Der alte Mann neben mir rührt sich nicht. Sein Atem ist gleichmäßig, fast wie das Ticken einer alten Uhr. Ich werfe einen Blick auf ihn, bemerke die tiefen Falten in seinem Gesicht, die von einem langen Leben zeugen. Seine Hände ruhen auf einem abgenutzten Koffer, und ich frage mich, wohin er wohl unterwegs ist. Vielleicht zu seiner Familie, vielleicht in ein warmes Zuhause, weit weg von diesem kalten, einsamen Ort.
„Sie wirken ungeduldig“, sagt er plötzlich, ohne mich anzusehen. Seine Stimme ist rau, aber warm, wie das Knistern eines Kaminfeuers an einem Winterabend.
Ich zögere, bevor ich antworte. „Der Zug verspätet sich. Schon wieder.“
Er nickt langsam, als hätte er das erwartet. „Die Züge kommen, wenn sie kommen. Manchmal ist das Warten das Schwierigste.“
Seine Worte hallen in mir nach, und ich spüre, wie sie sich in meiner Brust festsetzen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist das Warten wirklich das Schwierigste. Ich seufze und lehne mich zurück, versuche, mich zu entspannen. Doch meine Gedanken kreisen weiter, wie die Schneeflocken draußen, unaufhaltsam und unberechenbar.
Dann, ohne Vorwarnung, zieht er etwas aus seiner Tasche. Es ist ein Würfelbecher, alt und abgenutzt, mit eingravierten Mustern, die im Halbdunkel des Wartesaals kaum zu erkennen sind. Er stellt ihn auf den Boden zwischen uns und sieht mich an, zum ersten Mal direkt. Seine Augen sind durchdringend, als könnten sie in meine Seele blicken.
„Möchten Sie ein Spiel spielen?“ fragt er, und seine Stimme klingt plötzlich drängender, als ich es erwartet hätte.
Ich schüttle den Kopf, lächle höflich. „Nein, danke. Ich warte lieber auf meinen Zug.“
Er beharrt, seine Hand liegt auf dem Becher, als wäre er ein Schatz. „Es geht um viel. Es geht um Sie in diesem Würfelspiel.“
Seine Worte lassen mich innehalten. „Um mich?“ frage ich, verwirrt. „Was meinen Sie damit?“
Er sieht mich an, und in seinen Augen liegt etwas, das ich nicht deuten kann – eine Mischung aus Weisheit und Traurigkeit. „Sie werden es verstehen, wenn Sie spielen. Es ist wichtig.“
Ich zögere, spüre ein seltsames Kribbeln in meiner Brust. Etwas an seiner Stimme, an seinem Blick, zieht mich an, obwohl ich nicht weiß, warum. „Ich bin nicht gut im Würfeln“, sage ich schließlich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
„Das spielt keine Rolle“, erwidert er. „Es geht nicht um Geschicklichkeit. Es geht um Schicksal.“
Sein Wortwahl lässt mich erschaudern. Schicksal. Ein Wort, das ich immer als etwas Abstraktes betrachtet habe, etwas, das man nicht greifen kann. Doch in diesem Moment, in diesem verschneiten Wartesaal, fühlt es sich plötzlich greifbar an, fast wie der Würfelbecher, der zwischen uns liegt.
Ohne zu wissen, warum, nicke ich. „Gut. Ich spiele mit.“
Er lächelt, und sein Gesicht erhellt sich, als hätte er genau diese Antwort erwartet. Er reicht mir den Becher, und ich nehme ihn zögernd entgegen. Die Oberfläche ist kalt, aber unter meinen Fingern spüre ich eine seltsame Wärme, als würde der Becher zum Leben erwachen.
„Werfen Sie“, sagt er, und seine Stimme klingt jetzt wie ein Befehl.
Ich atme tief ein, schließe die Augen und werfe die Würfel. Sie klappern im Becher, und als ich die Augen öffne, sehe ich die Zahlen: drei, vier, fünf. Zwölf. Nicht schlecht, denke ich, aber auch nicht besonders gut.
Der alte Mann wirft als Nächster. Seine Bewegungen sind langsam, bedächtig, als würde er jeden Moment auskosten. Als er den Becher hebt, sehe ich die Zahlen: sechs, sechs, sechs. Einundzwanzig.
Mein Herz schlägt schneller. „Das ist unmöglich“, flüstere ich.
Er lächelt nur. „Werfen Sie wieder.“
Ich gehorche, obwohl ich nicht weiß, warum. Diesmal fallen die Würfel auf vier, fünf, sechs. Fünfzehn. Immer noch nicht genug.
Er wirft erneut, und diesmal zeigt er eine achtzehn. Ich spüre, wie die Anspannung in mir wächst, wie etwas in mir kämpft, obwohl ich nicht weiß, wogegen.
„Noch einmal“, sagt er, und seine Stimme klingt jetzt drängender, fast wie ein Flüstern in meinem Kopf.
Ich werfe die Würfel, und diesmal fallen sie auf sechs, sechs, sechs. Achtzehn. Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich ihn ansehe.
Er lächelt, aber es ist kein freundliches Lächeln. Es ist ein Lächeln, das etwas weiß, was ich nicht weiß. Er wirft die Würfel, und als er den Becher hebt, sehe ich die Zahlen: neunzehn.
In diesem Moment ertönt das Alarmsignal des Bahnhofs, schrill und durchdringend. Ich fahre herum, sehe die Menschen, die in Panik zum Ausgang rennen. Mein Zug, denke ich, mein Zug ist da. Aber als ich aufstehe, spüre ich, wie der alte Mann mich am Arm festhält.
„Warten Sie“, sagt er, und seine Stimme ist jetzt drängend, fast flehend. „Sie dürfen nicht gehen.“
Ich reiße mich los, renne zum Fenster, sehe den Zug, der gerade einfährt. Doch etwas hält mich zurück, ein Gefühl, das ich nicht erklären kann. Ich bleibe stehen, drehe mich um und sehe den alten Mann an.
„Was ist los?“ frage ich, meine Stimme zittert.
Er sieht mich an, und in seinen Augen liegt jetzt etwas, das ich nicht deuten kann – eine Mischung aus Mitgefühl und Warnung. „Sie haben gewonnen“, sagt er einfach.
„Gewonnen?“ wiederhole ich, verwirrt. „Aber Sie haben höhere Zahlen gewürfelt.“
Er schüttelt den Kopf. „Es ging nicht um die Zahlen. Es ging darum, dass Sie bleiben. Und Sie sind geblieben.“
Ich verstehe nicht, was er meint, aber in diesem Moment höre ich ein lautes Krachen, gefolgt von Schreien. Ich renne zum Fenster, sehe den Zug, der entgleist ist, den Rauch, der aufsteigt, die Menschen, die in Panik fliehen. Mein Herz schlägt wild, als ich begreife, was passiert ist.
„Mein Zug“, flüstere ich, und meine Stimme bricht. „Ich hätte in diesem Zug sein sollen.“
Der alte Mann steht hinter mir, seine Hand auf meiner Schulter. „Sie waren nicht bereit“, sagt er einfach. „Das Spiel war ein Test, und Sie haben ihn bestanden.“
Ich drehe mich um, sehe ihn an, und plötzlich verstehe ich. Der Würfel fiel nicht zufällig. Es war eine Warnung, ein Zeichen, dass ich nicht in diesen Zug steigen sollte. Das Spiel war kein Spiel, sondern ein Test, ein Test meines Schicksals.
„Wer sind Sie?“ frage ich, und meine Stimme klingt jetzt fest, fast fordernd.
Er lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. „Nur ein Reisender, der Ihnen einen Gefallen getan hat.“
Ich will mehr fragen, aber als ich mich umdrehe, ist er verschwunden. Der Wartesaal ist leer, bis auf mich und den Würfelbecher, der immer noch in meiner Hand liegt. Ich sehe ihn an, spüre die Gravuren unter meinen Fingern, und plötzlich weiß ich, dass ich ihn behalten muss.
Draußen herrscht Chaos. Die Sirenen heulen, die Menschen schreien, und der Schnee fällt weiter, als würde er die Welt unter einer weißen Decke begraben. Ich stehe da, den Würfelbecher fest in der Hand, und spüre, wie der Schleier der Unwissenheit von mir abfällt. Ich verstehe jetzt, dass das Spiel kein Spiel war, sondern eine Warnung, eine Lektion, die ich lernen musste.
Die Lautsprecheranlage des Bahnhofs knistert, und eine Stimme durchbricht das Chaos: „Achtung, bitte beachten Sie die Durchsage. Der Zug, der soeben entgleist ist, hatte zehn Todesopfer zur Folge. Bitte bewahren Sie Ruhe und folgen Sie den Anweisungen des Personals.“
Zehn Menschen tot. Ich schließe die Augen, spüre die Schwere dieser Worte. Ich hätte eine von ihnen sein können. Der alte Mann hat mich gerettet, aber warum? Was hat er gesehen, was ich nicht sehen konnte?
Ich öffne die Augen und betrachte den Würfelbecher in meiner Hand. Die Gravuren scheinen plötzlich klarer, als würden sie eine Geschichte erzählen, die nur ich verstehen kann. Es sind Symbole, die ich nicht kenne, aber sie fühlen sich vertraut an, als hätte ich sie schon einmal gesehen.
Der Schnee fällt weiter, und ich spüre, wie die Kälte langsam in meine Knochen kriecht. Doch ich bin nicht mehr die gleiche, die ich war, als ich in diesen Wartesaal kam. Etwas hat sich in mir verändert, etwas Tiefes, Unaussprechliches.
Ich höre Schritte hinter mir, aber als ich mich umdrehe, ist niemand da. Der Wartesaal ist leer, bis auf den Echo meiner eigenen Gedanken. Ich weiß, dass der alte Mann weg ist, aber ich spüre seine Präsenz noch, als würde er mich beobachten, mich führen.
Mit einem Gefühl der Erleuchtung und des Schauders verlasse ich den Bahnhof und gehe in die schneebedeckte Nacht.