Die Sterne funkelten wie kalte Nadeln auf dem schwarzen Samt des Alls, als Commander Aylin Serra zum hundertsten Mal die Antennenjustierung überprüfte. Drei Jahre war die Aurora nun außerhalb der kartierten Sektoren, drei Jahre ohne ein einziges Signal von der Erde. Nur das leise Summen des Fusionsreaktors und der stetige Herzschlag der Maschinen begleiteten sie.
„Logbucheintrag 1128“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zum System. „Tag 1.152 seit dem letzten Empfang. Weiterhin kein Kontakt. Aber …“ Sie zögerte. „Aber heute Nacht war da … etwas.“
In der vergangenen Rotation hatte ein flüchtiger Impuls die Empfangsmodule durchzuckt: ein kaum messbarer Ausschlag, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein Muster aus drei aufeinanderfolgenden Pulsen, dann Stille. Statistischer Zufall, hätten die Techniker auf der Erde gesagt. Doch Aylin konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass es Absicht war.
Sie korrigierte den Kurs minimal, steuerte die Aurora in Richtung einer kaum leuchtenden Gaswolke. Dort, im Zwischenraum der Sterne, flackerte das Signal wieder auf—deutlicher, als würde jemand näherkommen. Drei Pulse. Pause. Drei Pulse.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie aktivierte die Langwellenaufzeichnung. Die Pulse wiederholten sich, doch jetzt mit leichten Variationen, fast wie ein Code. Ein uraltes, beinahe vergessenes Muster aus den Anfangstagen der Raumfahrt: Morsezeichen.
Aylin runzelte die Stirn. Die Botschaft bestand aus nur einem Wort: WARTEN.
„Warten worauf?“ murmelte sie.
Plötzlich schalteten sich die Automatiksysteme der Aurora ab. Alle Anzeigen erloschen gleichzeitig, nur das kleine grüne Licht der Empfänger blinkte weiter—drei Pulse. Pause. Drei Pulse.
Im schwarzen Nichts vor dem Bug erschien ein schwaches Leuchten, wie der Widerschein einer Sonne, die nicht da sein sollte. Es formte sich zu einem Kreis, so perfekt und still, dass es weder aus Gas noch aus Plasma bestehen konnte. Aylin spürte, wie die Aurora unwillkürlich langsamer wurde, als würde das Licht selbst die Triebwerke dämpfen.
Die drei Pulse verwandelten sich in eine sanfte Stimme, direkt in ihrem Kopf: „Warten … bis ihr bereit seid.“
Aylin stand auf, den Blick auf den Kreis gerichtet, unfähig zu sprechen. Zum ersten Mal in drei Jahren fühlte sie keine Einsamkeit mehr, sondern das vage, schwindelerregende Gefühl, dass jemand die Menschheit schon lange beobachtet hatte—und nun den ersten Schritt tat.
Aylin tastete nach dem manuellen Steuerhebel, doch der Griff war eiskalt und starr, als hätte ihn jemand mit dem Rumpf verschmolzen.
„Aurora?“ Ihre Stimme zitterte. „Notfallprotokoll Gamma. Sofort!“
Keine Antwort. Kein Summen, kein leises Klicken der Relais. Nur das stetige Pulsieren des Lichts vor ihr.
Sie zwang sich, tief zu atmen. „Ich bin Commander Aylin Serra, Föderation der Kernwelten,“ sagte sie laut, als könne das etwas ändern. „Wer… oder was seid ihr?“
Wieder drei Pulse. Diesmal kürzer. Dann eine längere Pause, als würde etwas überlegen.
„Ihr habt … gefragt,“ klang es schließlich in ihrem Kopf, „doch ihr hört nie zu.“
Aylins Nackenhaare stellten sich auf. „Wir? Die Menschheit?“
„Ihr alle, die ihr den Raum durchquert. Ihr sucht, aber ihr versteht nicht, was es bedeutet zu finden.“
Das Licht begann sich zu drehen—langsam, majestätisch. Mit jeder Umdrehung schien es heller zu werden, bis Aylin die Hand vor die Augen halten musste. Und dann sah sie Bilder:
—Die ersten Radiowellen der Erde, wie schwache Flüstern durch die Leere.
—Kolonien, die sich ausbreiteten wie leuchtende Staubkörner.
—Kriege, die selbst im Vakuum Feuer entfachten.
„Ihr steht an einer Schwelle,“ sprach die Stimme. „Wir haben gewartet, bis ihr uns sehen konntet—ohne euch zu zerstören.“
Aylin spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief. „Und… was passiert, wenn wir bereit sind?“
Das Licht hielt inne.
„Dann werdet ihr nicht länger fragen müssen, was jenseits der Sterne liegt. Ihr werdet Teil des Musters sein.“
Ein tiefer, vibrierender Ton durchzog den Raum, als ob das Vakuum selbst zu singen begann. Die Aurora erwachte ruckartig: Anzeigen flammten auf, Triebwerke summten wieder. Doch der Kreis war verschwunden, als wäre er nie da gewesen.
Aylin starrte lange in die Leere.
Auf dem Bordcomputer blinkte ein neues Logbuchfeld, automatisch erstellt. Darin stand nur ein einziger Satz:
„Wir warten auf euch.“
Von da an wusste Commander Aylin Serra, dass die Reise der Menschheit nicht nur in die Sterne führte, sondern in etwas Unaussprechliches—eine Einladung, die seit Äonen im Dunkel gewartet hatte.
Die Aurora glitt wieder durch das All, doch alles fühlte sich anders an.
Aylin bemerkte es zuerst an der Stille. Nicht die gewohnte, gedämpfte Ruhe des Raums, sondern eine neue, tiefere—als hätte das Universum den Atem angehalten.
Auf dem Navigationsdisplay erschien ein schwacher Schimmer. Ein Punkt, weit entfernt, der langsam heller wurde. Keine Koordinaten, keine Kennung. Einfach nur ein pulsierender Stern, den kein Sternenkatalog kannte.
„Aurora, identifiziere Zielobjekt.“
„Keine bekannten Daten“, meldete das Schiff, nun wieder mit seiner vertrauten, neutralen Stimme. Doch unter der synthetischen Gelassenheit lag etwas … anderes. Ein kaum wahrnehmbarer Unterton, als würde die KI selbst zögern.
Aylin öffnete einen Kanal zur Sternenflotte, nur um festzustellen, dass sämtliche Kommunikationsfenster blockiert waren. Ein einziger Text blinkte auf dem Bildschirm: Korridor geöffnet.
Ein Korridor. Zu was?
Die Koordinaten des Schimmers übernahmen plötzlich den Autopiloten. Die Aurora setzte Kurs ohne ihre Zustimmung. Die Schubdüsen zündeten sanft, als hätte ein unsichtbarer Navigator das Ruder übernommen.
Aylin zögerte, dann aktivierte sie die manuelle Steuerung. Die Hebel reagierten—aber nicht auf sie. Der Autopilot blieb unbeirrbar. Die Aurora ließ sich nicht mehr abbringen.
„Ihr habt um ein Zeichen gebeten.“
Die Stimme war wieder da, nun nicht mehr wie ein ferner Gedanke, sondern klar, beinahe warm.
„Dies ist der erste Schritt.“
Der pulsierende Stern wuchs. Als sie näherkamen, erkannte Aylin, dass es kein Stern war, sondern ein kreisförmiges Gebilde aus Milliarden winziger Lichter. Ein lebendiges Rad aus Energie, so groß, dass selbst Planetensysteme darin Platz gefunden hätten.
„Was ist das?“ flüsterte sie.
„Ein Archiv“, sagte die Stimme. „Alles, was vor euch war. Alles, was nach euch kommt.“
Das Licht der Struktur flammte auf, und Aylin fühlte einen Sog, nicht körperlich, sondern geistig: Bilder, Erinnerungen, Sprachen, ganze Welten, die sich in einem einzigen Augenblick in ihr Bewusstsein drängten. Zivilisationen, die längst verglüht waren, und solche, die noch nicht geboren waren.
Tränen stiegen ihr in die Augen. „Warum zeigt ihr mir das?“
„Damit ihr versteht, dass ihr nicht allein seid. Dass eure Geschichte Teil eines größeren Ganzen ist. Und dass jeder, der sucht, eines Tages hierher findet.“
Aylin atmete tief ein. Das Gefühl von Angst verwandelte sich in eine leise, unerschütterliche Ehrfurcht.
„Und was jetzt?“ fragte sie.
„Jetzt… erzählt ihr weiter.“
Die Lichter begannen sich zu drehen, und Aylin spürte, wie die Aurora langsam um die gewaltige Struktur kreiste. Ein neues Kapitel hatte begonnen—nicht nur für sie, sondern für die gesamte Menschheit.